"Geschwinde Practicken" im Reich. Verschwörungstheorien, politische Prognostik und fürstliche Ratsstube zwischen Reformation und Religionskrieg, ca.1500–1635

"Geschwinde Practicken" im Reich. Verschwörungstheorien, politische Prognostik und fürstliche Ratsstube zwischen Reformation und Religionskrieg, ca.1500–1635

Veranstalter
Hannes Ziegler (München)
Veranstaltungsort
Center for Advanced Studies (CAS), LMU München
PLZ
80539
Ort
München
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
18.04.2024 - 19.04.2024
Deadline
15.09.2023
Von
Hannes Ziegler, Abteilung Frühe Neuzeit, LMU München

Der geplante Workshop richtet sich auf den Zusammenhang zwischen Verschwörungstheorien und politischem Handeln zwischen Reformation und Dreißigjährigem Krieg. Primär, aber nicht ausschließlich, geht es um das Heilige Römische Reich. Er geht aus von der Beobachtung, dass der Zusammenhang zwischen Bedrohungsszenarien und politischen Handlungsdynamiken für den Zeitraum ein zentrales Kennzeichen politischer Kommunikation und politischer Praxis darstellt.

"Geschwinde Practicken" im Reich. Verschwörungstheorien, politische Prognostik und fürstliche Ratsstube zwischen Reformation und Religionskrieg, ca.1500–1635

Er geht aus von der Beobachtung, dass der Zusammenhang zwischen Bedrohungsszenarien und politischen Handlungsdynamiken für den Zeitraum ein zentrales Kennzeichen politischer Kommunikation und politischer Praxis darstellt, das hinsichtlich seiner strukturellen Bedeutung einer neuen Betrachtung wert ist. Jenseits bekannter Einzelfälle sind es im Wesentlichen fünf Merkmale, die diesen Zusammenhang für das Reformationsjahrhundert besonders virulent machen. Glaubwürdige und zuverlässige Information auch über zeitlich und räumlich vergleichsweise nahes Geschehen war selbst auf Ebene fürstlicher Kommunikation Mangelware und je nach politischer Lage zusätzlich prekär. Das Gerücht - und insbesondere das böswillige Gerücht - fand hierin einen idealen Nährboden. Entscheidend verstärkt wurde diese Fragilität zweitens durch die religiöse und konfessionelle Spaltung: Lagermentalitäten und ein ins grundsätzliche verzerrter Generalverdacht gegen Einzelne und gegen bestimmte Gruppen (wahlweise Jesuiten, Papisten, Calvinisten, Lutheraner, Juden, Ligisten, Unionisten, Spanier, Franzosen, u.a.) sind so insbesondere für die zweite Jahrhunderthälfte ein Strukturmerkmal politischer Kommunikation, das um 1600 auch die zentralen Foren des Reiches (Reichstage, Deputationstage, etc.) erfasste und auf diese Weise das kommunikative Setting des Reiches prägte. Verstärkt wurden solche Verschwörungstheorien und Bedrohungsszenarien im selben Zeitraum durch Entwicklungen außerhalb des Reiches (Frankreich, Spanien, Niederlande, Italien) oder an seinen Grenzen (etwa in den rheinischen und ungarischen Grenzgebieten). Angesprochen ist damit die diskursive Verquickung politischer Ereignisse jenseits des Reiches mit inner-reichischen Angelegenheiten. Dass diese Verquickung zudem häufig in medialer Form (geschriebene Zeitungen, Kontroverstheologie, etc.) stattfand, markiert viertens, dass die Logik der Verschwörungstheorie mit fortschreitender Zeit eine mediale Dimension gewann, die mit dem Denken und Handeln in fürstlichen Ratsstuben inhaltlich und personell in engem Austausch stand, sich aber diskursiv zunehmend verselbständigte und das Personal der Ratsstuben unter externen Zugzwang setzte. Schließlich ist fünftens charakteristisch, dass Verschwörungstheorien in je unterschiedlichem Maße einen Zukunftsvorgriff beinhalten. Sie waren darum ein besonders fruchtbares Anwendungsfeld für viele Formen politischer Prognostik, die ihrerseits Einfluss auf politisches Entscheidungshandeln ausübten.

Ausgehend von diesen Beobachtungen fragt der Workshop danach, wie und auf welche Weise Verschwörungstheorien im Reformationsjahrhundert Einfluss auf politische Handlungsdynamiken gewannen. Im Vordergrund steht dabei insbesondere die Frage nach ihrer Strukturwirkung: So scheint bspw. die vorderhand schlüssige Beobachtung einer grundsätzlich destabilisierenden Wirkung solcher Kommunikationsereignisse nicht immer aufzugehen. Gerade mit Blick auf die lange Vorkriegsphase bis 1619 ließe sich gerade das Argument machen, dass es nicht zuletzt die allenthalben gepflegten Bedrohungsszenarien waren, die jegliche politische Aktion und Entscheidung als Wagnis erscheinen lassen mussten und die darum - für eine begrenzte Zeit - befriedend wirkten. An solchen Beispielen zeigt sich, dass bisherige Erklärungsansätze etwa im Sinne eines sog. „Konfessionsfundamentalismus“ – neben ihrer einseitigen Betonung des Faktors Konfession - zu kurz greifen, da in ihnen das Ergebnis solcher Dynamiken tendenziell schon vorweggenommen ist. Zudem reicht das Desiderat hinsichtlich zeitgenössischer Verschwörungstheorien bis in den Bereich politischer Semantik, fehlt doch bislang bspw. eine gezielte Auseinandersetzung etwa mit dem zeitgenössischen Signalwort der „bösen“, „geschwinden“ und „seltsamen Practicken“ und seiner diskursiven Wirkung. Auch die naheliegende Erprobung einer emotionenhistorischen Perspektive ist derzeit noch kaum ausgeschöpft. Neben den inhaltlichen Anliegen verfolgt der Workshop aber auch das Ziel, die zuletzt weniger intensiv geführte Debatte um politisches Handeln unter den Vorzeichen von Reformation und Konfessionalisierung zu beleben und jüngere Forschungen miteinander ins Gespräch zu bringen.

Der Workshop ist hinsichtlich der möglichen Themen generell offen, doch können die nachfolgenden Fragen und Perspektiven als Orientierung dienen.

1. Semantik, Rhetorik, Medialität:
Unter welchen Semantiken werden Verschwörungstheorien, Gerüchte und geglaubte Bedrohungen in der reichsfürstlichen Kommunikation, auf den Reichsversammlungen oder in anderen politischen Kontexten verhandelt? Welche rhetorischen Strategien kommen zum Einsatz, um diese Verschwörungstheorien entweder zu bestärken oder zu entkräften? In welchen medialen Konstellationen treten diese Figuren auf, d.h. in welchem temporalen oder inhaltlichen Zusammenhang stehen reichsöffentliche Druckschriften und politische Korrespondenzen? Unter welchen Umständen werden sie Gegenstand politischer Prognostik? Und wann und nach welchen Mustern gewinnen solche Figuren eine Eigendynamik, die von Einzelnen und selbst durch glaubhafte Versicherung nicht mehr zu bremsen ist?

2. Transmission, Verbreitung, Eigendynamik:
Welche Träger (d.h. Personen, Medien, etc.) sind für die Transmission und Verbreitung von Verschwörungstheorien entscheidend? Welche Medien erzielen die größten Verbreitungschancen und welche Medien/Medienkonstellationen erzeugen die größten Glaubhaftigkeitssuggestionen? Welche strategischen Gewinne und politischen Motivationen verbinden sich mit dem bewussten Einsatz solcher Mittel? Welche Rolle spielt das Gerücht? Und wo liegen die spezifischen Anfälligkeiten für Verschwörungstheorien und Gerüchte bspw. im kommunikativen Setting des fürstlichen Hofes, in der zwischenhöfischen Korrespondenz oder auf den Reichsversammlungen?

3. Reaktionen, Verarbeitung, Handlungsdynamiken:
Welche Umgangsweisen mit Gerüchten und Verschwörungstheorien lassen sich auf Seiten der am Stärksten von dem unsicheren Status vertrauenswürdiger Information Betroffenen, d.h. auf Seiten der politischen Handlungsträger ausmachen? Wie lassen sich Verschwörungstheorien neutralisieren, wie strategisch für politische Zwecke nutzbar machen? Unter welche externen Zug- und Rechtfertigungszwänge setzen Gerüchte und Verschwörungstheorien die politischen Akteure und welche Rolle spielt hierbei die mediale Verselbständigung der betreffenden Bedrohungsszenarien? Welche Handlungsoptionen werden ausgeschlossen, welche werden wahrscheinlicher? Welche typischen Handlungsdynamiken lassen sich am Umgang mit Verschwörungstheorien aufzeigen? Und welche Strategien der Absicherung von Information und der Zerstreuung von Gerüchten wurden (erfolgreich) genutzt, insbesondere mit Blick auf diplomatische Strategien oder Formen der politischen Prognostik?

4. Strukturwirkungen:
Schließlich, welche grundlegenden Beobachtungen zu den Strukturmerkmalen politischer Kommunikation zwischen Reformation und Religionskrieg lassen sich aus alledem ableiten? Inwiefern bietet diese Herangehensweise neue Chancen für eine politische Geschichte des Reformationsjahrhunderts? Welche systemstabilisierenden oder systemdestabilisierenden Wirkungen von Verschwörungstheorien lassen sich für die krisenhafte Geschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts ableiten?

Neben einer aufs Reichsganze zielenden Ebene politischer Kommunikation und politischen Handelns ist der geplante Workshop ausdrücklich offen für stadt- und regionalgeschichtliche Ansätze. Bei thematischer Passgenauigkeit sind zudem Beiträge zu anderen Staatswesen im selben Zeitraum denkbar (bspw. Böhmen, Polen-Litauen, Niederlande, Frankreich, England, etc.). Interessenten senden bitte ein kurzes Abstract (ca. 300 Wörter) für einen 20–25 minütigen Vortrag und einen knappen Lebenslauf bis zum 15.09.2023 an: hannes.ziegler@lmu.de. Eine Veröffentlichung der Beiträge ist angedacht; eine Finanzierung der Reisekosten für TeilnehmerInnen ist möglich. Keynote: Prof. Dr. Ulrike Ludwig (Münster); Kommentar: Prof. Dr. Ronald G. Asch (Freiburg).

Kontakt

E-Mail: hannes.ziegler@lmu.de

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